Yara (Jahrgang 1995), Svenja (1996), Maeve (2002), Birger (2007), Paula (2010).
Aktuell bearbeitet am 27. Januar 2025.
Liebe Yara, Svenja, Maeve.
Mit 19 Jahren musste mein Papa, euer Uropa, in den Ersten Weltkrieg ziehen – nach Frankreich. Nicht aus Begeisterung für die Nation oder aus Hass gegen „den Erbfeind“, wie es damals hieß. Er wurde zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurde er mit mehr als 45 Jahren ein zweites Mal an die Front geschickt, diesmal Richtung Russland. Wieder gezwungenermaßen. Ihr könnt einschätzen, wie es einem jungen Mann in dieser Situation ging. Einer, der ganz andere Ziele und Träume hatte – gerade eure Uroma geheiratet. Stolz, Vater eines Sohnes zu sein, der jetzt euer Opa ist.
Lieber Birger, liebe Paula.
Ihr seid noch nicht so alt wie mein Papa, als er das erste Mal zum Kriegsdienst verpflichtet wurde. Versucht mal im Gesicht eures Uropas zu lesen, auf dem Bild war er 56 Jahre alt. Er hatte alles schon erlebt: Freude und Spaß, Hoffnungen und Erfolge. Doch seine Gesichtszüge sind hart geworden; sie sprechen vom Leben voller Angst und Schrecken, aber auch von Kampfgeist. Denn die Lebenserfahrung hatten ihn zum überzeugten Pazifisten gemacht.
In der Schlacht von Verdun, im Ersten Weltkrieg, kam euer Uropa mit Blessuren davon – mit einer schweren Gasvergiftung und einer Schussverletzung am Kinn. Noch im hohen Alter sprach er vom Sterben in den Schützengräben vor der französischen Stadt an der Maas.
Wie er sich vor Angst in die Hosen gesch… hatte. Wie neben ihm Kameraden elendig zugrunde gingen. Wie er selbst Soldaten der anderen Seite erschossen hatte. Gelitten hat er darunter bis ins hohe Alter.
Geburtsjahr 1895, für meinen Vater ein folgenschwerer Jahrgang. Ihr könnt euch wohl kaum in sein damaliges Leben hineinversetzen – nach jetzt genau 80 Jahre Frieden in unserem Land. Oder, wenn wir uns aktuell umschauen: Nach jetzt genau 80 Jahren ohne Krieg im eigenen Land.
Zwei Mal griff das Militär tief in das Leben eures Uropas und eurer Uroma ein. Zwei Mal! Zuletzt im Zweiten Weltkrieg als ich bereits geboren war.
SS-Einsatzgruppen und die Wehrmacht vernichteten Dörfer und Städte auf ihrem Weg nach Osten, brachten Soldaten und Zivilisten um, massakrierten Frauen und Kinder. Zu viel für euren Uropa mit seiner Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg. Er desertierte, querte Polen zu Fuß Richtung Heimat, nach Spremberg.
Immer wieder erzählte er von der Unterstützung, die er auf seinem Weg bei der polnischen Bevölkerung erfahren hatte. Obwohl die Deutschen nach ihrem Überfall auf Polen unvorstellbares Unheil angerichtet hatten, bekam er Verpflegung, wurde mit ziviler Kleidung ausgestattet, wurde versteckt.
So konnte man ihn nicht aufbringen und als Deserteur vor die Wand stellen wie man die Hinrichtung geflüchteter Soldaten damals nannte. Und in Spremberg musste er höllisch aufpassen, damit er nicht als Deserteur enttarnt wurde.
Zwei Weltkriege, mehrere Schussverletzungen und eine Giftgasverletzung, ein ausgekugelter Arm, den ihm die Nationalsozialisten noch vor dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hatten, das waren seine Andenken an die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Immerhin: er hatte überlebt.
100 Millionen in Europa haben das nicht geschafft, davon 20 Millionen im Ersten Weltkrieg und 80 Millionen im Zweiten Weltkrieg – genaue Zahlen gibt es nicht.
Und das alles, weil die Menschen in Europa nicht friedlich zueinander gefunden hatten. Weil nationalistisches Denken die Köpfe vernebelte und Hass schürte. 100 Millionen! In Deutschland leben heute knapp 84 Millionen.
Liebe Yara, Svenja, Maeve, Birger und Paula.
All das ist heute schwer vorstellbar, stimmt’s? Ihr kennt es aus dem Geschichtsunterricht und aus Medien. Aber es am eigenen Leibe erfahren zu haben – das ist nochmal eine ganz andere Nummer.
Das Leben eures Uropas und eurer Uroma müsste ich auch mal aufschreiben, und zwar für die Zeit vor, zwischen den beiden Weltkriegen und danach. Eine Geschichte, in der alles steckt, was auch ihr vom Leben kennt oder erwartet: Freude, Pech und Pannen, Verliebtheit und Liebe, Glück mit Familiengründung und Bau des eigenen Hauses. Nach dem Krieg war es eine zerbombte Ruine. Neuanfänge, neue Träume und Hoffnungen.
Auch, wenn unsere Gesellschaft heute Mängel und Risse zeigt, nicht alles immer so funktioniert, wie ihr es euch wünscht: Reiht euch nicht ein in die lange Schlange von Zeitgenossen, die immer und überall nur meckern und jammern, bringt euch ein, wo immer es möglich ist. Vergleicht euer Leben mit den Erfahrungen eures Uropas. Ihr werdet ein Stück zufriedener sein.
Heute könnt ihr innerhalb der EU die meisten Grenzen queren, ohne dass kontrolliert wird, ihr könnt studieren, arbeiten und wohnen, wo immer ihr wollt – zumindest theoretisch. Ihr lebt in Freiheit, Demokratie und Sicherheit. Wir sind vernetzt in der Europäischen Union, im größten Friedensprogramm, das die Welt je gesehen hat. Bei dem ganzen Polit-Zirkus, den wir allzu oft beobachten, wird all das als selbstverständlich genommen.
2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Können wir das nach jetzt 80 Jahren ohne Krieg im Land nicht mal richtig feiern? Am 2. September wird man das in Deutschland offiziell tun. Und andere Länder werden den Sieg über Nazideutschland feiern.
Euer Opa von der Insel bringt euch schon jetzt dafür einen Strauß Blumen.