Fischland-Darß-Zingst/Rügen, April 2020. Vielleicht weckt der Gedanke an die Insel verborgene Sehnsüchte nach Freiheit in einem Paradies fernab von Stress, Überdruss und Widersprüchen unserer Zivilisation, jenseits von Gewalt und Terror, vom Wunsch nach selbstbestimmtem Leben voller Liebe und Harmonie. Da schwingen Bilder mit von Palmen an weißen Stränden, Atollen in türkisfarbener See und farbprächtiger Unterwasserwelt, fischreichen Riffs und Inseln mit Menschen, die zu harmonischen Südseeklängen rhythmisch tanzen. Es gibt auf Rügen eine Frau, die schwärmt von den Südseeinseln und übt sich gerade in Melodie und Text des „Tiare Tipani Enua Manea” – diesen traditionellen Ohrwurm der Cook Islands, den in unseren Breiten wohl niemand kennt. Oder die „Pan Pipes Narasirato” von den Salomon-Inseln mit ihren selbstgebauten Instrumenten in ursprünglicher Umgebung, tanzend im aufgeweichten Boden nach tropischem Regen – sind sie nicht ein Inbegriff von Zufriedenheit im einfachen Leben?
Solche Träume kann heute keine Insel der Welt erfüllen, weder im Pazifischen Ozean, noch in der Ostsee. Bleiben wir also auf heimischen Boden und nähern wir uns einer Geschichte aus unserer Inselwelt. Und zwar in einem populären Lied, das hier nun wirklich jeder kennt. Es besingt die Nordseewellen, weltweit in ungezählten Sprachen und Variationen verbreitet: das Friesenlied. Aber auch hier: Illusion. Alles nur geklaut. Es sind gar nicht die Nordseewellen, die in dem Lied original besungen wurden.
Dahinter steckt die tragische Geschichte von Martha Müller-Grählert, die in direkter Nachbarschaft zur Insel Rügen aufgewachsen ist und die es in die weite Welt verschlagen hatte. Voller Heimweh nach ihrer Ostsee schrieb sie 1907 in pommerschem Platt das Gedicht „Mine Heimat“, in dem es um Ostseewellen am Strand der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst ging. Ihr Gedicht wurde international als Volkslied vielen Variationen ein Welterfolg und ist bis heute ein Ohrwurm geblieben.
Von ihrem Erfolg hatte Martha Müller-Grählert rein gar nichts. Das Urheberrecht wurde ihr erst nach langem Prozessieren zugesprochen – zu spät, sie starb 1939 arm, einsam und fast erblindet in ihrem Geburtsort Zingst. Die Mönchguter Fischköpp vom Südosten der Insel Rügen singen ihr Werk mit authentischem Text.
So also ist es nach wie vor: In Seemannsliedern und Literatur wird die See verklärt, manchmal sogar unter falschem Etikett.
Auch in unseren Tagen verleitet die Rügener Inselwelt gelegentlich zum Schwärmen. „Wir wohnen in Süddeutschland und können diesen gewaltigen Eindruck des Meeres nicht alle Tage erleben, umso intensiver lebt er also in unserer Erinnerung!”, kommentiert Constanze Wolfregen in meinem Blog. Die Eindrücke haben sie inspiriert zu einer Hommage an die Insel Rügen: „Die Insel”, schreibt sie auf ihrer eigenen Website, „umgeben vom Meer, das mit seiner Brandung voller Poesie eine eigene Melodie singt”.