Wie war Dein Leben so mit 19? Erinnerst Du Dich?
Mir fällt dabei mein Vater ein. Er war 19 als er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Das war jetzt vor genau hundert Jahren. In der Schlacht von Verdun kam er gerade noch davon – mit einer schweren Gasvergiftung und einer Schussverletzung am Kinn. Noch im hohen Alter sprach er vom Sterben in den Schützengräben vor der französischen Stadt an der Maas.
Geburtsjahr 1895, für meinen Vater ein folgenschwerer Jahrgang. Als knapp Fünfzigjährigen rief ihn erneut das Militär. Diesmal sollte es Richtung Russland gehen. SS-Einsatzgruppen und die Wehrmacht massakrierten Frauen und Kinder, vernichteten Städte und Dörfer. Zuviel für meinen Vater, er desertierte, querte Polen zu Fuß Richtung Heimat. Immer wieder erzählte er uns von der Unterstützung, die er auf seiner Flucht von der polnischen Bevölkerung erfahren hatte. Obwohl die Deutschen nach ihrem Überfall auf Polen unvorstellbares Unheil angerichtet hatten, bekam er Verpflegung und wurde, wenn notwendig, versteckt. So wurde er nicht aufgebracht und als Deserteur vor die Wand gestellt wie man die Hinrichtung geflüchteter damals Soldaten nannte.
Zwei Weltkriege, mehrere Schussverletzungen und eine Giftgasverletzung, ein ausgekugelter Arm, den ihm die Nationalsozialisten noch vor dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hatten, das waren seine Andenken an die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Immerhin: er überlebte.
80 Millionen haben das nicht geschafft, weil die Menschen in Europa nicht friedlich zueinander gefunden hatten. Weil nationalistisches Denken die Köpfe vernebelte und Hass schürte. 80 Millionen – so viele wie heute in ganz Deutschland leben.
So was kannst Du Dir nicht wirklich vorstellen, stimmt’s? Heute kannst Du innerhalb der EU die Grenzen queren, ohne dass Du kontrolliert wirst, Du kannst studieren, arbeiten und wohnen, wo immer Du willst. Wir sind angekommen in der Europäischen Union, im größten Friedensprogramm, das die Welt je gesehen hat. 2012 wurde sie für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sollten wir das nicht feiern?
„Wer an Europa zweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen”, Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Politiker, sagte das in seiner Rede im Deutschen Bundestag. Beschämend indes ist die Beteiligung bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament, 2009 in Deutschland gerade mal 43 Prozent. Wählen gehen ist „Farbe bekennen”, Mitentscheiden, Verantwortung mit tragen. Nicht wählen ist Gleichgültigkeit.
Am 25. Mai hast Du Gelegenheit Dich festzulegen. Wer die Geschichte meines Vaters kennt, würde nicht zögern. Ich werde mir bei meiner Wahl genau ansehen, welche Partei die Europäische Idee mitträgt und welche sie bekämpft.