An Yara (Jahrgang 1995), Svenja (1996), Maeve (2002), Birger (2007), Paula (2010).
Aktuell bearbeitet am 18. Februar 2025.
Liebe Yara, Svenja, Maeve, Paula, lieber Birger.
Mit 19 Jahren musste mein Papa, euer Uropa, in den Ersten Weltkrieg ziehen – nach Frankreich. Nicht aus Begeisterung für die Nation oder aus Hass gegen „den Erbfeind“, wie es damals hieß. Er wurde zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurde er mit 47 ein zweites Mal an die Front geschickt, diesmal Richtung Russland – wieder gezwungenermaßen. Könnt ihr euch vorstellen, wie es einem jungen Mann in dieser Situation geht. Einer, der ganz andere Träume hat – stolz war, Vater eines Sohnes zu werden, denn ich war gerade im Bauch meiner Mutter „unterwegs“. Wie es ihr geht, deren Mann gerade tausend Kilometer entfernt in Ungewisse marschieren muss?
Versucht mal im Gesicht eures Uropas zu lesen, auf dem Bild war er 56 Jahre alt. Er hatte alles schon erlebt: Freude, Liebe, Hoffnungen, Erfolge. Doch seine Gesichtszüge sind hart geworden; sie sprechen vom Leben voller Angst und Schrecken, aber auch von Entschlossenheit und Kampfgeist. Denn die Lebenserfahrung hatten ihn zum überzeugten Pazifisten gemacht.

Franz Levermann (* 1895, † 1971). Zwangsrekrutierter Soldat in zwei Weltkriegen, danach überzeugter Pazifist (Foto von 1951).
Aus der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg kam euer Uropa mit folgenschweren Blessuren – mit einer Schussverletzung am Kinn und einer schweren Giftgasverletzung.
Noch im hohen Alter sprach er vom Sterben in den Schützengräben vor der französischen Stadt an der Maas. Wie er vor Angst in die Hosen gesch… hat. Wie neben ihm Kameraden elendig zugrunde gingen – sie einen letzten an Mutter, Frau, Tochter und Sohn bestellten. Wie euer Uropa aus dem Schützengraben Soldaten der anderen Seite erschossen hatte – jeder ein Mensch wie er selbst. Gelitten hat er darunter bis ins hohe Alter.
Geburtsjahr 1895, für meinen Vater ein folgenschwerer Jahrgang. Versucht mal, euch in sein damaliges Leben hineinzuversetzen – mit euren Erfahrungen bei jetzt genau 80 Jahren Frieden. Oder, wenn wir uns aktuell umschauen: Nach jetzt genau 80 Jahren ohne Krieg im eigenen Land. Woanders geht dieser Irrsinn ja auch heute weiter.
1942 war euer Uropa auf dem Weg an die Front in Russland, und er sah: SS-Einsatzgruppen und die Wehrmacht hatten Dörfer und Städte niedergebrannt, Soldaten und Zivilisten umgebracht, Frauen und Kinder massakriert. Zu viel für ihn mit seiner Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg. Er desertierte, querte Polen zu Fuß Richtung Heimat, nach Spremberg.

Mai 1939, Ostsee-Urlaub im polnischen Misdroy. Franz Levermann, damals 44, wusste noch nicht, dass er wenige Jahre später ein zweites Mal als Soldat in den Krieg ziehen muss. Auch ein Aspekt der Zeitgeschichte: Ein Vierteljahr vor Kriegsausbruch konnte man im polnischen Misdroy als Deutsche Urlaub machen.
Immer wieder erzählte er von der Unterstützung, die er auf seinem Weg durch die polnische Bevölkerung erfahren hatte. Obwohl die Deutschen nach ihrem Überfall auf Polen unvorstellbares Unheil angerichtet hatten, bekam er Verpflegung, wurde mit ziviler Kleidung ausgestattet, wurde versteckt.
So konnte man ihn nicht aufbringen und als Deserteur vor die Wand stellen wie man die Hinrichtung geflüchteter Soldaten damals nannte. Und in Spremberg musste er höllisch aufpassen, damit er nicht als Deserteur auffliegt.
Zwei Weltkriege, mehrere Schussverletzungen und eine Giftgasverletzung, ein ausgekugelter Arm, den ihm die Nationalsozialisten noch vor dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hatten, das waren seine Andenken an die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Immerhin: er hatte überlebt.
100 Millionen in Europa haben das nicht geschafft, davon 20 Millionen im Ersten Weltkrieg und 80 Millionen im Zweiten Weltkrieg. Ist das nicht ungeheuerlich? Hundert Millionen Tote! In ganz Deutschland leben aktuell knapp 84 Millionen Menschen.
Und das alles, weil die Menschen in Europa nicht friedlich zueinander gefunden hatten. Weil nationalistisches Denken die Köpfe vernebelte und Hass schürte. Und, ich kann es nicht begreifen, jetzt gibt es bei uns wieder Leute, die diese Vergangenheit relativieren, die den Keim dieser Ideologie in sich tragen und weiter verbreiten.
Liebe Yara, Svenja, Maeve, Birger und Paula.

Mai 1939. Gemeinsamer Urlaub mit eurem Uropa in Misdroy, ein Vierteljahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Lisbeth Gebhardt, damals 35 Jahre jung. Drei Jahre später heiratete sie euren Uropa und brachte mich auf die Welt.
All das ist schwer vorstellbar, stimmt’s? Ihr kennt es aus dem Geschichtsunterricht und aus Medien. Aber alles am eigenen Leibe zu erfahren – das ist nochmal eine ganz andere Nummer.
Das gemeinsame Leben eures Uropas und eurer Uroma müsste ich auch mal aufschreiben, und zwar über die Zeit vor, zwischen den beiden Weltkriegen und danach – in der DDR und in Westdeutschland. Eine Geschichte, in der wieder alles steckt, was auch ihr von eurem noch jungen Leben kennt oder erwartet: Freude, Pech und Pannen, Verliebtheit und Liebe, Glück mit Familiengründung und, vielleicht, Bau des eigenen Hauses. Nach dem Krieg war dies bei meinen Eltern eine zerbombte Ruine auf einem einst schönen, jetzt verwüsteten Gartengrundstück. Neuanfang, neue Träume und Hoffnungen, neue Herausforderungen.
Meine lieben Enkel Yara, Svenja, Maeve, Birger und Paula.
Auch, wenn unsere Gesellschaft heute Mängel und Risse zeigt, nicht alles immer so funktioniert, wie ihr es für richtig haltet oder euch wünscht: Reiht euch nicht ein in die lange Schlange von Zeitgenossen, die immer und überall nur meckern und jammern, bringt euch ein, wo immer es möglich ist. Gestaltet mit! Vergleicht euer Leben mit den Erfahrungen eures Uropas und der Uroma. Ihr werdet ein Stück zufriedener sein. Und vor allem: Lasst euch nicht täuschen von vermeintlichen Heilsbringern mit verführerischen Parolen.
Heute könnt ihr innerhalb der EU die meisten Grenzen queren, ohne dass kontrolliert wird. Ihr könnt studieren, arbeiten und wohnen, wo immer ihr wollt – zumindest theoretisch. Ihr lebt in Freiheit, Demokratie und relativer Sicherheit. Wir sind vernetzt in der Europäischen Union, dem größten Friedensprogramm, das die Welt je gesehen hat. Bei dem ganzen Polit-Zirkus, den wir allzu oft beobachten, wird all das als selbstverständlich wahrgenommen.
2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Können wir das nach jetzt 80 Jahren ohne Krieg im Land nicht mal richtig feiern? Am 2. September wird man das in Deutschland offiziell tun. Und andere Länder werden den Sieg über Nazideutschland vielen Symbolen begehen.
Euer Opa von der Insel bringt euch schon jetzt dafür einen Strauß mit Blumen.